Der Krieg war nun zu Ende und die Leute fingen an die Spuren zu beseitigen. Es war
reges Leben in unserem Dorf in Zsámbék. Man sah die Leute wieder auf dem Feld
und in ihren Gärten wo sie ihre Saat ausbrachten. Die Hausdächer wurden neu
eingedeckt und die Fensterscheiben wieder eingesetzt. Von weit her hörte man noch
Minen und Granaten explodieren und oft danach noch Schreie und Hilferufe.
Jeder wusste, da ist schon wieder etwas Schreckliches passiert.
An einem Sonntagnachmittag gingen 14 Jungen, die alle in der
Neugstift (Straßennamen) wohnten hinaus aufs Feld. Sie wollten sich das Chaos
anschauen, denn die Felder und Äcker sahen grausam aus. Sie fanden eine Panzerfaust
und warfen sie auf einen ausgebrannten Panzer. Sicherlich konnten sie die Wirkung mit
ihren 13 bis 15 Jahren noch nicht abschätzen, denn sieben der Jungen waren sofort tot.
Es war eine fürchterliche Tragödie und das blanke Entsetzen war den Leuten im Ort anzusehen. Drei Tage später wurden diese sieben Jungen gemeinsam beerdigt und alle Einwohner gaben ihnen das letzte Geleit.
Das Leben ging weiter, die Menschen hatten viel zu tun. Jeder war bestrebt sein
Anwesen wieder herzurichten. Es gab kaum noch eine ärztliche Versorgung. Wir hatten
kein Brot, keine Kartoffeln und der Magen knurrte. Unsere Mutter kochte fast täglich Maisbrei, der natürlich mit Wasser angerichtet wurde, denn Milch hatten wir schon
lange nicht mehr. Öfters gab es auch Kukuruz Mali mit Knoblauch, das war so eine
Art Maiskuchen. Die Menschen sehnten sich nach Wärme und Fröhlichkeit.
Der Zusammenhalt war in dieser Zeit sehr groß. Oft traf man sich abends bei Nachbarn
oder Bekannten zum „Bingelball“, wo jeder etwas zum Essen mitnahm, was dort
gemeinsam verspeist wurde. Alle konnten für eine kurze Zeit ihre Sorgen vergessen
und waren für ein paar Stunden fröhlich. Sie tanzten, unterhielten sich und
sangen Lieder. Meist waren es nur die Frauen mit ihren Kindern, denn viele Männer
waren noch nicht aus dem Krieg nach Hause gekommen. Manche Frauen warteten
vergebens.Aber das Leben musste ja weitergehen und wir alle versuchten das Beste
daraus zu machen, aber es war nicht so leicht, denn nachts kamen die Lastwagen aus Budapest. Es waren Menschen, die uns ausplündern wollten. Wir hatten nicht mehr viel und auch diesen Rest wollten sie uns noch wegnehmen. Wenn wir sie rechtzeitig bemerkten, konnten wir sie mit Mistgabeln und Schaufeln vertreiben.
Wir waren also dabei unser Haus und Hof wieder herzurichten als eines Tages im
Ort das Gerücht die Runde nahm, dass alle „Deutschen“ enteignet werden und ihr
Haus und Hof verlassen müssten. Nein, dass haben wir einfach nicht glauben wollen.
Wie es sich aber schnell herausstellte, war es tatsächlich kein Gerücht, denn schon
bald kamen die neuen Bürger von der rumänischen Grenze. Sie durften sich die
schönsten Anwesen aussuchen und die jeweiligen Besitzer mussten im wahrsten Sinne
des Wortes, alles liegen und stehen lassen und durften ihre Häuser nicht mehr betreten.
Schon bald wurde im Rathaus ein Plakat ausgehängt, woraus wir entnehmen konnten,
dass alle „Deutschen“ in Kürze ausgesiedelt werden. Wir sollten in „unsere Heimat“
zurück woher einst unsere Ahnen kamen. Das wir schon seit vielen Generationen in
Ungarn geboren sind und einen ungarischen Pass hatten und somit ungarische
Mitbürger waren, interessierte niemanden.Kurze Zeit später wurden Listen im Rathaus
ausgelegt, die von den Einwohnern Zsámbék’s eingesehen werden konnten.
Und schon auf der ersten Liste waren unsere Namen zu lesen. Meine Familie war also
schon für den ersten Transport vorgesehen.
Die 1. heilige Kommunion war für die Zsámbéker Christen sehr wichtig, daher hat man
dieses christliche Zeremoniell auf den 23. März vorverlegt. Es betraf meinen
Jahrgang (1937). Ich erinnere mich an eine sehr bescheidene Familienfeier, denn wir
hatten ja nichts zu essen geschweige denn Geld und mein Vater war aus dem Krieg
noch nicht zurück. Meine Tante Resi sie wohnte in der Schwabengasse, hatte noch ein
Huhn im Hof herumlaufen, kurzerhand wurde dieses geschlachtet und ein
Hühnerpaprikasch daraus zubereitet. Das war dann mein Kommunionsfestmahl.
Nun hieß es unsere sieben Sachen zusammen zu packen.
Meine Techert Oma wollte es nicht glauben, dass es tatsächlich soweit kam.
Sie „durfte“ auch in Zsámbék zurück bleiben, denn sie hat die ganze Aufregung nicht verkraftet und ist vor Kummer gestorben.
Wir packten alles was wir noch besaßen in Kisten und Säcke. Dann gingen wir mir mit
meiner Mutter und Oma Elbert auf den Friedhof um Abschied zu nehmen von unseren
Toten. Von meiner Schwester Theresia die am 12.02.1937 im Alter von 12 Jahren an Hirnhautentzündung gestorben ist, von meinem Bruder der 1927 geboren ist und
nur ½ Jahr alt wurde, von meinem Opa Elbert und von meiner Oma Techert die wir
erst vor ein paar Tagen beerdigt hatten und allen anderen. Es fiel uns allen sehr schwer
und es war eine große Wehmut in uns und unter allen Menschen im Dorf.
Mein Vater war immer noch nicht zu Hause von den deutschen Soldaten,
darüber machte sich meine Mutter große Sorgen, denn sie musste uns drei Kinder
alleine durchbringen. Meine Tante Rosa und Tante Anna (sie wohnte in Dorog)
standen nicht auf der Liste und durften als einzige von ihren neun Geschwistern
zurück bleiben. Trotzdem waren sie sehr, sehr traurig und haben viel geweint,
die Familien wurden auseinander gerissen und keiner wusste, wann man sich jemals
wieder sehen würde. Einige von den gepackten Kisten und Säcke brachten wir zu meiner Tante Rosa zur Aufbewahrung, denn wir alle waren davon überzeugt, dass wir in ein
paar Wochen wieder hier zurück sein werden. Dann stand eines Tages der Pferdewagen
vor unserem Haus und wir mussten unsere Kisten und Bündel aufladen. Meine Tante
Resi hat ein Ziegenlämmchen geschlachtet und das Fleisch gebraten. Es sollte unser
Proviant während der Reise sein. Meine Mutter, Tante Resi und Tante Barbara
kletterten auf den Wagen und wir Kinder Kaiser Hans, sein Bruder Seppi (Josef) meine Schwestern Maria und Wawi (Barbara) und ich durften ganz oben auf den Kisten sitzen.
Der Bahnhof war 9 km entfernt. Für meine Oma Elbert, Tante Klara und Tante Lissi
war kein Platz mehr uns so sind sie kurzerhand zurück geblieben und wollten mit der
nächsten Fuhre und dem Reiseproviant (Lammfleisch) zum Bahnhof kommen.
Wir fuhren los und aus jeder Straße kamen Vollbeladene Pferdefuhrwerke gefahren.
Langsam fuhr einer nach dem anderen die Straßen entlang.
Plötzlich fingen die Kirchenglocken an zu läuten und die vorerst noch Daheimgebliebenen standen auf den Straßen und winkten uns noch einmal zu. Alle Menschen weinten.
Die Menschen saßen auf den Fuhrwerken und alle drehten sich um und schauten zurück
bis der Kirchturm nicht mehr zu sehen war. Das Bild von der alten Kirche nahm ich
noch einmal in mir auf, heute noch denke ich, sie hat uns nachgeschaut.
Dann war schweigen, auf dem Weg zum Bahnhof hörte man keinen Laut.
Alle waren in sich gekehrt. Am Bahnhof angekommen, standen schon die ungarischen Polizisten und unser Hab und Gut wurde von ihnen durchsucht. Einiges haben sie uns
noch weggenommen und dann durften wir mit dem Rest zum Zug, der schon bereit stand.
Es waren 36 Viehwaggons. Uns wurde der letzte zugewiesen und wir luden unsere
paar Habseligkeiten ein. Meine Mutter hat uns aus dem alten Stroh, das sich in dem
Waggon befand ein Bett gebaut auf dem wir Kinder schlafen konnten.
Die Erwachsenen saßen auf den Kisten. Auch ein Ofen befand sich in dem Waggon.
Wir warteten immer noch auf meine Oma Elbert, Klara und Lissi, aber von ihnen war
nichts zu sehen. Vielleicht waren sie ja in einem anderen Waggon? Immer wieder hielt
meine Mutter, meine Tanten Resi und Barbara Ausschau nach ihnen.
Für die drei Frauen war es nicht leicht, denn sie vermissten ja alle auch ihre Männer,
die vom Krieg noch nicht zurück waren. Am nächsten Morgen fuhr der Zug los,
ohne meine Oma Elbert, Klara und Lissi. Wir wussten nicht wo sie waren und wo sie verblieben sind. Für uns Kinder war es ein Abenteuer und wir waren neugierig, denn
wir waren noch nie mit einem Zug gefahren. Wir haben die ganze Situation noch nicht begreifen können. Meine Mutter sagte: „Gott sei Dank, wir fahren Richtung Österreich.“
Wir fuhren viele Stunden und kamen dann in irgendwo in Österreich an, wo der Zug halt machte. Dort wurden wir dann alle entlaust und nach einigen Stunden ging die Fahrt
weiter. An Hygiene war nicht zu denken, es gab weder eine Toilette noch konnten wir
uns waschen. Und unser Reiseproviant, den Tante Resi vorbereitet hatte, war ja bei Oma Elbert geblieben. So waren wir einige Tage unterwegs bis wir dann in Wetzlar
angekommen sind. Dort wurden wir schon erwartet mit Hackfleisch- und Käsebrötchen.
Es war für uns etwas sonderbares, denn wir hatten noch nie rohes Fleisch gegessen, aber
es schmeckte uns, denn wir hatten Hunger. In Wetzlar wurden wir in Baracken
einquartiert und dort gab es dann auch jeden Tag eine warme Mahlzeit. Nach ein paar
Tagen Aufenthalt in Wetzlar, es war der Gründonnerstag 1946 wurden wir auf
Lastwagen verteilt und nach Salzböden gefahren. Dort wurden wir in eine Scheune
gebracht und nun warteten wir: „Wo werden wir jetzt wohnen?“ Auf einmal kam ein
Mann mit einer Schubkarre, er rief: „Wo ist hier eine Familie Techert?“ Meine Mutter,
meine Schwester Maria, Barbara und ich haben dann unsere Kisten und Bündeln auf die Schubkarre gepackt und gingen hinter dem Mann her. Ich beschwerte mich, denn mir
taten meine Füße weh. Meine Versen waren total vereitert, weil meine Schuhe viel zu
klein waren, aber es nützte nichts, denn wo sollte ich neue Schuhe herbekommen?
Wir kamen zur Familie Schneider in der Hauptstraße Dort wurden uns 1 Zimmer
von 12 qm zugewiesen. Darin befand sich 1 Ofen, 1 Tisch, 4 Stühle und 2 Betten.
Das sollte nun unser neues Zuhause sein. Die Familie Schneider war sehr nett zu uns.
Sie bewirteten uns mit Rhabarber- und Streuselkuchen, den wir auch nicht kannten,
der uns aber sehr gut schmeckte. Schneiders hatten einen kleinen Jungen, sein Name
war Willi. (Der Dorfname: Schmidt-Juster) Wir verstanden uns auf Anhieb und sehr
bald fühlte er sich bei uns wie zu Hause. Wir Kinder hatten unseren Spaß und haben
versucht ihm ungarisch bei zu bringen und nach ein paar Tagen schmetterte er mit uns
schon ungarische Lieder. Auch ich fühlte mich bei der Familie Schneider sehr wohl,
denn sie waren sehr gut zu mir und gaben mir oft was zu essen, denn ich war sehr
zierlich und hatte mit meinen 9 Jahren erhebliches Untergewicht. Wir Kinder hatten uns
recht schnell und ganz gut eingelebt und das Leben begann allmählich sich zu
normalisieren. So lebten wir viele Wochen, bis eines Tages mein Vater plötzlich vor der
Tür stand. Meine Mutter, die sich immer große Sorgen machte, weil sie ja nicht wusste,
ob er überhaupt noch am Leben ist, weinte vor Freude und wir Kinder waren auch überglücklich. Meine Schwester Maria, die 6 Jahre älter ist als ich, musste bald nach
unserem Einzug nach Fronhausen und dort als Dienstmagd bei einem Bauern arbeiten.
Sie war die ganze Woche dort und kam nur am Wochenende in unser bescheidenes Heim. Meine Schwester Barbara und ich wurden in Salzböden eingeschult. Wir konnten uns gut anpassen und fanden uns nach ein paar Tagen auch schon ganz gut zurecht.
Nun war mein Vater wieder zu Hause und unsere Familie war Gott sei Dank wieder heil und gesund zusammen. Er erzählte uns, dass er uns durchs rote Kreuz suchen ließ und ihm das auch gleich gelungen ist und er sich auf den Weg nach Salzböden machte.
Wie wir im Nachhinein erfahren haben, haben meine Oma Elbert, Klara und Lissi den Zug in dem wir waren nicht mehr rechtzeitig erreicht und so kamen sie dann mit dem 2 Transport nach Stuttgart. Nach einigen Monaten kamen dann meine Oma Elbert,
Klara und Lissi zu uns nach Salzböden, wo ihnen auch ein Zimmer zugewiesen wurde.
Den Erwachsenen fiel es sehr schwer sich einzugewöhnen. Viele hatten großes Heimweh, aber es half alles nichts und mit der Zeit gewöhnten sich alle an ihre neue Umgebung.
Ich werde unseren Geburtsort Zsámbék nie vergessen. Es bleibt meine alte Heimat.
1976 waren wir das erste Mal wieder nach der Vertreibung zu Hause in „unserem“
Zsàmbèk. Wir gingen durch das ganze Dorf, auf den Friedhof, in die Kirche, wir standen
vor unserem Haus und schauten nur. Ja, der Brunnen war noch da und der Birnbaum
mitten in unserem Hof stand auch noch. Wir machten ein Foto von meinem Elternhaus,
dass nach 30 Jahren ganz verwahrlost aussah. Anfangs tat es noch weh. Die Bewohner glaubten, wir wollten unseren ehemaligen Besitz zurück, aber daran dachten wir nun
nicht mehr. Wir hingen nur unserer Wehmut nach. Wir sahen noch einige bekannte
Gesichter, die nicht ausgewiesen wurden und die Freude des Wiedersehens war immer
sehr groß. Wir wurden eingeladen in die Weinberge und in den Weinkellern bot man
uns den herrlich schmeckenden Wein an. Wir fühlten uns wieder wie früher. Mindestens zwanzigmal haben wir unseren Urlaub dort verbracht und Erinnerungen aufgefrischt.
Es war zu Beginn ein beschwerlicher Weg die 1000 km mit unserem DKW-Junior zu bewältigen. 15 bis 20 Stunden waren wir oft unterwegs bis wir mit beklemmten Herzen
dort ankamen. Ich war noch ein Kind als das alles geschehen ist. Trotzdem kann ich es
nicht vergessen und wir reden immer noch von unserem Heimatort Zsámbék. Wie es
früher war. Wo wir gespielt haben und von unseren Freunden von denen wir so plötzlich getrennt wurden. Mittlerweile sind über 60 Jahre vergangen, unsere Eltern und
Großeltern längst verstorben und ihre Ruhestätten teils in Ungarn und teils in
Deutschland. Unsere Kinder und Enkel werden es mit der Zeit vergessen.
In der heutigen Zeit des Konsums und der Technik werden sie sich das nicht mehr
vorstellen können, was wir alles durchleben mussten.
Ja, nun sind wir wieder da, von wo einst unsere Ahnen vor 300 Jahren ausgewandert sind. In Ungarn waren wir „die Deutschen“ und hier sind die älteren immer noch „die Ungarn“. Aber auch das wird sich ändern und das ist gut so.
Anna Földházi geb. Techert
Schwerer Neuanfang
Der Bericht wurde 1999 in dem Buch
"Das Schicksal der Heimatvertriebenen" veröffentlicht.
(Die Verfasserin möchte nicht genannt werden.)